“The Gray Man” mit Ryan Gosling, Chris Evans, Regé-Jean Page und Ana de Armas verspricht großes Popcorn-Entertainment – aber kann der rasante Action-Thriller sein Versprechen halten?
“The Gray Man” mit Ryan Gosling, Chris Evans, Ana de Armas und Regé-Jean Page ist ein reiner Actionfilm – nicht mehr und auch nicht weniger
Ich liebe Actionfilme. “Stirb langsam” kann ich in zwei Sprachen mitsprechen, Dreisatzrechnung habe ich nur dank des Gallonenrätsels in “Stirb langsam: Jetzt erst Recht” ansatzweise verstanden. Ich mag gute Actionsequenzen, bei alten “James Bond”-Filmen kann ich nur schwer umschalten, und Ryan Gosling in “Drive” hat den Mythos des Heldentums neu definiert. Aber “The Gray Man”? – Ich weiß ja nicht, ob der Film trotz seiner Star-Besetzung für die Ewigkeit ist. Warum, verrate ich euch hier.
Wer gern Actionfilme mit krassen Stunts und wilden Verfolgungsjagden mag, wird bei “The Gray Man” voll und ganz auf seine Kosten kommen. Der Netflix-Film der “Avengers”-Russo-Brüder wäre vor circa 20 Jahren ein hundertprozentiger Einnahmegarant an den Kinokassen gewesen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Zum Glück für uns, nicht so sehr für “The Gray Man”.
“The Gray Man” ist ein klassischer Action-Thriller, in dem Gut gegen Böse, personifiziert als Ryan Gosling gegen Chris Evans und Regé-Jean Page gegeneinander antreten. Wem eine Story mit subtilen oder smarten Untertönen egal ist, der wird “The Gray Man” feiern. Alle, die sich von einem Actionfilm inzwischen ein bisschen weniger Vorschlaghammer, Chauvi-Geschwätz und dafür ein bisschen mehr weibliche Beteiligung wünschen, dürften in den zwei Stunden, die “The Gray Man” dauert, nicht auf ihre Kosten kommen.
“The Gray Man”: Inhalt
Ganz kurz zum Inhalt. Bei “The Gray Man” handelt es sich um einen klassischen Agenten-Actionthriller, in dem irgendetwas gehörig schiefläuft. Weil Carmichael (kein Vorname, Regé Jean Page) Leichen im Keller hat, nutzt er die Black-Ops, also die geheimsten aller Geheimmissionen bei der CIA, um sich selbst wieder eine reine Weste zu verschaffen. Er setzt Six (kein Name, Ryan Gosling) auf den Mord an Five (Billy Bob Thornton) an, aber dank James-Bond-artiger Eingebung kommt Six dem Komplott auf die Spur – und wird selbst zur Zielscheibe. Carmichael setzt den Legionär Lloyd Hansen (Vorname + Vorname, Chris Evans) auf Six an. Infolgedessen beginnt eine wilde Jagd um den ganzen Globus: Zwischen Bangkok, Berlin, Wien, Monaco, Prag, Washington und Virginia schießt sich Six mit versteinerter Miene seinen Weg frei – denn er hat inzwischen eine eigene Mission, die – logo! – etwas mit der Rettung eines Mädchens zu tun hat.
Actionszenen, in denen das wunderschöne Prag verwüstet wird oder sich Silhouetten hinter durchsichtigen Vorhängen gegenseitig umschießen? Check. Eine Entwicklung der Figuren, die sogenannte Heldenreise, die in Filmen aus Protagionist:innen am Ende bessere Personen macht? Findet man nicht auf den ersten Blick.
“The Gray Man” ist ein gnadenloser Actionfilm, der kommt, um abzuliefern – ohne Tiefgang, ohne Substanz, dafür mit Maschinengewehren jeglicher Machart und wilden Szenen in Flugzeugen.
“The Gray Man”: Ähm, Frauenrollen, anyone?
Klar, das fällt uns als Erstes auf: Wo ist die gute weibliche Darstellerin, die Identifikationsfigur für uns Frauen? Die haben die Russo-Brüder irgendwie vergessen. Ana de Armas (“Blonde”) hat wenig zu sagen, und ihre Gegenspielerin Suzanne Brewer verblasst zu oft neben ihrem schmierigen Boss Carmichael.

“The Gray Man”: Boys will Be Boys – ugh!
Und die Männerrollen in “The Gray Man”? Chris Evans ist ein überdrehter Auftragskiller, der als Psychopath Gefangene mit Stromschlägen direkt in den Mund quält und es sich à la Al Pacino in “Scarface” mit einem Glas Whisky und einem doofen Spruch nach dem nächsten zum großen Showdown gemütlich macht. Er drischt schlechte Phrasen und sorry, auch sein Schnauzbart kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eigentlich der ewig gute, ewig integere “Captain America” aus den “Avengers”-Filmen der Russo-Brüder vor dem Publikum steht.

Ryan Gosling wird als Six, einem der 30 besten Auftragskiller und Agenten der Welt, die Rolle des wortkargen Fahrers aus “Drive” einfach nicht los. Inzwischen ist er bekannt für die leicht verknitterten Figuren weniger Worte. Wenn Gosling als Six in einer Actionszene gegen eine Trambahn, Angreifer mit Maschinengewehren, Autos und explodierende Gebäude antritt und es genau einen Gewinner, Six, gibt, erwartet der:die Zuschauer:in schon gar keinen großen Monolog, keine Entwicklung der Figur mehr – dass er seiner Retterin ein “Danke” entgegennuschelt, ist fast schon eine Überraschung. Es ist gemein, dass man ihm mehr Tiefgang, die Charakterentwicklung seiner Figur vorenthält: Das hat in “Drive” und “Blade Runner 2049” gut funktioniert, nur in “The Gray Man” muss er bis zum Schluss einfach nur funktionieren – wie eine Maschine.

Und Regé-Jean Page, unser geliebter Duke aus “Bridgerton”? Ist als Carmichael einfach ein riesengroßer Kotzbrocken, der scheinbar Sexismus wie andere Cornflakes frühstückt. Nicht nur, dass er den Geheimdienst mit seiner Abteilung für verdeckte Ermittlungen für seine persönliche Vedetta missbraucht (Das ist ein etabliertes Motiv in einem Actionfilm, keine Frage!) – nein, er hat auch absolut widerliche Sprüche drauf. Als ihm Ana de Armas als Dani Miranda droht, antwortet er ihr angewidert, dass sie doch bitte seinen personal space verlassen möchte. Excuse me? Als ob irgendjemand mit einem Minimum an gesundem Menschenverstand und Empathie auch nur die unsichtbare Linie des Tanzbereichs zu ihm überschreiten wollte… Als seine Mitarbeiterin es wagt, ihm Paroli zu bieten, sagt er allen Ernstes: “Es ist sehr gefährlich, wenn du anfängst, für dich selbst zu denken.” Im Jahr 2022 – really?! Schon klar, er wird zum Antagonisten, den man sehr einfach hassen kann, stilisiert. Aber hinter dieser Fassade steckt leider wenig glaubhafte Schauspielkunst. (Spoiler-Alert: Er hat keinen Löffel dabei und ist immer angezogen.)
“The Gray Man” auf Netflix: Wie “Stirb langsam”, nur weniger lässig
Wenn es einen Goldstandard bei Actionfilmen gibt, dann muss das “Stirb langsam” sein. Nicht nur der erste Teil der Saga um den grummeligen, aber gutherzigen Polizisten John McClane (Bruce Willis), sondern auch der dritte Teil “Stirb langsam: Jetzt erst recht” ist absolut perfekte Action-Unterhaltung. Die Klassiker sind aus den 1990ern und leben von Verfolgungsjagden, Aufzugsszenen, einem Cop, der es mit dem Rest der Welt aufnimmt – und dennoch für seine persönliche Entwicklung kämpft. Es sind im Fall von John McClane immer seine Frau Holly (Bonnie Bedelia), die er am Ende des Tages in die Arme schließen, oder das Leben seines unverhofften Freundes Zeus (Samuel L. Jackson), das er retten will. Diese Filme leben von Bruce Willis als McClane, der in den Filmen ein besserer, empathischerer Mensch wird.
Sogar James Bond hat inzwischen den Bogen vom gefühllosen Hau-drauf-Agenten zum menschlichen Wesen vollzogen. Ein weiterer Actionheld mit eigener Filmreihe, James Bourne, war von Anfang an nur auf der Suche nach dem Sinn.
Es ist schade, dass man Ryan Gosling diese Reise verwehrt und das Publikum erst in den letzten fünf Minuten von “The Gray Man” sehen kann, dass da doch mehr als diese versteinerte Agenten-Miene ist. Ich will ja auch nicht, dass Top-Spione und Back-Ops-Dudes wegen eines Streifschusses gleich umfallen (weil: Action ist ein tolles Genre), aber ein bisschen mehr Menschlichkeit dürfte man 2022 schon erwarten. Wenn Gosling als Six dann schließlich einen Minischritt in seiner persönlichen Entwicklung vollzogen hat, erklingt auch schon der Schlusssong: “Wild Child” von der Band The Black Keys – ein irre guter Song, den man sich auch ohne zwei Stunden Action-Geballer ohne Tiefgang einfach so anhören kann.
This article is originally published by glamour.de